Eselsohren
Mittwoch, 20. Juni 2007
27
Literatur, eine dem Denken vermählte Kunst und eine Verwirklichung ohne den Makel der Wirklichkeit, scheint mir das Ziel, dem alles menschliche Bestreben gelten sollte, wenn es denn wahrhaft menschlich und nicht allzu tierhaft wäre. Ich glaube, eine Sache in Worte fassen heißt ihr die Kraft bewahren und den Schrecken nehmen. Felder sind grüner in der Beschreibung als in ihrem Grün. Beschreibt man Blumen mit Sätzen, die sie im Bereich des Imaginären definieren, sind ihre Farben von einer Dauer, die ihr zelluläres Leben nicht hergibt.
Sich bewegen heißt leben, sich in Worte fassen heißt überleben. Nichts im Leben ist weniger wirklich, weil es gut beschrieben wurde. Kleinkarierte Kritiker pflegen zu betonen, ein Gedicht in hymnischen Rhytmen besage letztlich doch nur, daß der Tag schön ist. Doch in Worte fassen, daß der Tag schön ist, ist schwierig, zudem vergeht auch der schöne Tag. Mithin müssen wir den schönen Tag in einem wortreichen, blühenden Gedächtnis bewahren und auf diese Weise die Felder oder Himmel der leeren, vergänglichen äußeren Welt mit neuen Blumen oder neuen Sternen übersäen.
Alles ist, was wir sind, und alles wird für jene, die in der Vielfalt der Zeit nach uns kommen, so sein, wie wir es uns intensiv vorgestellt haben, das heißt wie wir es, unsere Vorstellungskraft verkörpernd, wahrhaft gewesen sein werden. Ich glaube nicht, daß die Geschichte mit ihrem großen verblichenen Panaroma mehr ist als eine Abfolge von Deutungen, ein verworrener Konsens geistesabwesender Zeugen. Romaciers sind wir alle, und wir erzählen, wenn wir sehen, denn das sehen ist so komplex wie alles übrige.
Ich habe in diesem Augenblick so viele Grundlegende Gedanken, so viele wahrhaft metaphysische Dinge zu sagen, daß ich mich mit einem Male müde fühle und beschließe, nicht weiterzuschreiben, nicht weiterzudenken, sondern geschehen zu lassen, daß mir das Wortfieber Schlaf schenkt und ich mit geschlossenen Augen alles, was ich gesagt haben könnte, wie eine Katze streichele.
S. 35
Fernando Pessoa - Das Buch der Unruhe
Ammann Verlag
andrethom - 20. Jun, 16:13
Donnerstag, 24. Mai 2007
Auszug aus Walt Whitmans "Song of Myself"
5.
I believe in you my soul, the other I am must not abase itself to you,
And you must not be abased to the other.
Loafe with me on the grass, loose the stop from your throat,
Not words, not music or rhyme I want, not custom or lecture, not even the best,
Only the lull I like, the hum of your valvèd voice.
I mind how once we lay such a transparent summer morning,
How you settled your head athwart my hips and gently turn'd over upon me,
And parted the shirt from my bosom-bone, and plunged your tongue to my bare-stript heart,
And reach'd till you felt my beard, and reach'd till you held my feet.
Swiftly arose and spread around me the peace and knowledge that pass all the argument of the earth,
And I know that the hand of God is the promise of my own,
And I know that the spirit of God is the brother of my own,
And that all the men ever born are also my brothers, and the women my sisters and lovers,
And that a kelson of the creation is love,
And limitless are leaves stiff or drooping in the fields,
And brown ants in the little wells beneath them,
And mossy scabs of the worm fence, heap'd stones, elder, mullein and poke-weed.
hier in einer Übersetzung bzw. feiner ausgedrückt: Nachdichtung von Hans Reisiger:
5.
Ich glaube an dich, meine Seele, mein andres Teil soll sich nicht erniedern vor dir,
noch du dich vor ihm.
Schlendre mit mir durch das Gras, löse den Stöpsel aus deiner Kehle,
Nicht Worte, Musik und Reim verlang ich, nicht weisen Spruch und wär es der beste,
Einzig das Lullen lieb ich, das Summen deiner gedeckten Stimme.
Ich gedenke, wie einst wir lagen an solch einem durchsichtigem Sommermorgen,
Wie du dein Haupt quer über meine Lenden legtest und dich leise über mich kehrtest
Und das Hemd streiftest von meinem Brustbein und tauchtest deine Zunge in mein entblößtes Herz
Und hinaufreichtest, bis du meinen Bart fühltest und hinabreichtest, bis du meine Füße hieltest.
Alsbald erhob und breitete sich um mich der Friede und das Wissen, das höher ist als alle Beweisgründe der Erde,
Und ich weiß, dass die Hand Gottes die Gewähr für meine eigene Hand ist,
Und ich weiß, dass der Geist Gottes der Bruder meines eignen Geistes ist,
Und dass alle Männer, die je geboren, auch meine Brüder sind und die Frauen meine Schwestern und Liebsten,
Und dass der Richtkiel der Schöpfung Liebe ist,
Und zahllos Halme aufgerichtet oder geneigt auf den Feldern,
Und Ameisen braun in den winzigen Schlupflöchern an ihren Wurzeln,
Und moosige Flechten auf dem alten Scherenzaun, Steinhaufen, Holunder, Königskerzen und Kermesbeeren.
Hatte ich zu Beginn doch leichte Schwierigkeiten in der Lektüre von Whitmans "Grashalme" sind diese aber nach einigen Seiten wie weggefegt, fortgerissen möchte man sagen, von dieser unglaublichen Kraft, die er zu entwickeln weiß.
"Nicht fordernd den Himmel, dass er mir zu Gefallen herunterkomme,
sondern ihn allezeit ausstreuend mit vollen Händen."
!!
andrethom - 24. Mai, 18:16
Donnerstag, 3. Mai 2007
LEAR. Blast, Wind' und sprengt die Backen! Wütet! Blast! -
Ihr Katarakt' und Wolkenbrüche, speit,
Bis ihr die Türm' ersäuft, die Hähn' ertränkt!
Ihr schweflichten, gedankenschnellen Blitze,
Vorläufer eichenspaltenden Donnerkeils,
Versengt mein weißes Haupt! Du, Donner, schmetternd,
Schlag flach das mächt'ge Rund der Welt; zerbrich
Die Formen der Natur, vernicht' auf eins
Den Schöpfungskeim des undankbaren Menschen.
Aus Shakespeares "König Lear", Dritter Aufzug, 2. Szene, übersetzt von Ludwig Tieck in "Shakespeare - Sämtliche Werke", Bechtermünz Verlag
Vor ein paar Tagen habe ich mein Shakespeare Gesamtausgabe wieder hervorgekramt und kann die Finger nicht davon lassen, alle andere Lektüre und Schreibarbeit ist liegengeblieben.
"König Lear" hat mich absolut irritiert zurück gelassen, es ist vermutlich das seltsamste Stück von Shakespeare, zuweilen ist die Handlung regelrecht absurd (womöglich schlichtweg misslungen?), aber dennoch finden sich auch hier wieder einige meine Eselsohren.
Seltsamerweise hatte ich von Anfang an bei Lear als Besetzung Klaus Kinski in meinem Kopf und wie hervorragend sich das in meiner Vorstellung ausnahm kann man sich vielleicht auch an diesem Zitat vorstellen: ein brüllender, im Geist zerfetzter Kinski.
Hat Kinski auch aus Shakespeares "König Lear" gelesen? Muss ich mal suchen, für Hinweise bin ich gerne dankbar.
andrethom - 3. Mai, 16:40
Montag, 2. April 2007
Wenn mir in einem Buch ein Zitat besonders wertvoll erscheint, mache ich mir für gewöhnlich ein Eselsohr in die Seite und markiere den betreffenden Teil mit Bleistift und wenn es darüber hinaus besonders anregend ist, auch Notizen.
Bei Louis Aragons Roman "Spiegelbilder" ist die Anzahl der umgeknickten Seiten besonders auffällig, ähnlich viele gibt es in meiner Ausgabe von Julio Cortazars "Rayuela", nur dass ich dort irgendwann diese Prozedur aufgegeben habe, man müsste eben jede zweite Seite so markieren.
Ich werde in Zukunft und je nachdem, wie ich Lust dazu habe, diese für mich wichtigen Eselsohr-stellen hier übertragen. Hier die erste aus Louis Aragon "Spiegelbilder":
Oh, Melodie zum Sterben, die das Meer eifersüchtig macht! Wo bin ich, es ist kein Platz mehr in diesem großem, vom Alter und vom Durst ausgezehrten Körper, der ich war, wenn ich mich recht erinnere, der ich nur noch der Vorhang an dem Fenster bin, das du singst, hochgezogen, wieder herunterfallend, von seiner Musik durchdrungen, ich bin nur noch die Bleistiftblässe der Worte, von denen allein ein paar bald verwischte Buchstaben übrig sind, ich bin nur noch die Spur zwischen dem Schweigen und dem Schrei, dem Reden, das um sich greift und mich immer wieder aus der Fassung bringt... Ich habe mir nicht ausgesucht zu existieren, ich habe mir nicht ausgesucht zu leiden, ich habe nicht die Stunde und nicht das Ufer ausgesucht. Weder dieses Blut noch dieses Verlangen!
Louis Aragon "Spiegelbilder" S. 169 Volk und Welt 3. Auflage 1980 Original "La Mise à Mort"
P.S. Man mag mir nachsehen, dass diese Auswahl innerhalb eines Romans äußerst intuitiv erfolgt, d.h. womöglich gibt es in den vorherigen 168 Seiten und auch in den nachfogenden, die ich nicht markierte, Stellen, die ich gleichermaßen markiert hätte, wenn ich in der Laune bzw. Verfassung gewesen wäre. Unabhängig davon habe ich mich für diese Variante der öffentlichen Darstellung entschieden, soll heißen: es geht eben nicht(!) um von meiner Person unabhängige Wertungen oder Darstellungen oder Wahrnehmungen.
andrethom - 2. Apr, 23:46